Wandel kommt nicht überraschen
Mit Disrupteuren sind in diesem Kontext die sogenannten Start-up-Unternehmen und die Risiko-Finanziers des zweiten Gesundheitsmarktes gemeint. Aus wirtschaftlicher Perspektive zeichnet sich diesbezüglich ein gegensätzliches Bild. Die Fragmentierung der Berufsbilder, also die Aufspaltung eines Berufsbildes in Tätigkeiten, führt dazu, dass dem Individuum selbst innerhalb seines Berufsbildes Grenzen gesetzt werden. Der Tellerrand für das Individuum, also die Grenze, beginnt dort, wo die Handlungsrelevanz einer Tätigkeit aufhört zu existieren. Diese Sichtweise findet ihre Unterstützung nicht zuletzt in der enormen Arbeitsbelastung und dem zu knapp berechneten Stellenschlüssel in Einrichtungen des Gesundheitswesens. Urlaub und Krankheit führen dann meist noch zu zusätzlichen Belastungen, sodass es nur wenig Bereitschaft gibt, über den Tellerrand des Tagesgeschäfts hinauszublicken.
So entsteht ungewollt ein Kompetenz-Gap, der die zuvor angedeutete Tendenz verstärkt. Mit anderen Worten: Disruptionsmomente, die durch diesen Kompetenz-Gap entstehen, sind ursächlich nicht der Technologie zuzuschreiben, sondern dem schleichenden Entzug der Handlungsrelevanz. Dahinter verbirgt sich ein sozialpsychologisches Phänomen, das den Einzelnen und seine Kompetenzentwicklung tangiert. Für die Beschäftigungsfähigkeit des Individuums ist es deshalb wichtig, zu erkennen, für welche Tätigkeiten es sich Handlungsrelevanz aneignen muss. Im Gegensatz zu dieser Entwicklung in der Arbeitswelt ist unser Organismus ein Generalist, denn er hat immer die Gesamtzusammenhänge im Blick, die dem Individuum abhandengekommen sind. Daraus lässt sich die Erkenntnis ableiten, dass im Kontext der Wirtschaft Disruption wenig mit den Bedeutungsgehalten des lateinischen Wortstammes zu tun hat, sondern mit Anpassung und Kompetenzentwicklung. Überträgt man nun das Gesagte auf das Gesundheitswesen, so ist es nicht so, wie es in den Medien suggeriert wird, dass Vorgänge, unabhängig davon, durch welchen Umstand sie auch immer hervorgerufen werden, nicht beeinflusst werden können. So wie ein Infekt sich ankündigt und das Immunsystem auffordert, zu reagieren, bevor wir es merken, so kündigen sich auch Änderungen an, die Unternehmen auffordern, ihre bestehenden Prozessabläufe permanent den Anforderungen ihrer Umwelt anzupassen. So gesehen, sind Disruption und Evolution in gewisser Hinsicht dasselbe, aber nicht das Gleiche. Vor diesem Hintergrund reden wir eher über Disruptionsmomente im Sinne von Anpassung, anstatt von Disruption im Sinne von Zerstörung. Der Begriff Disruptionsmoment ist somit ein Synonym für den Begriff Teilprozess und steht für den Nutzen beziehungsweise den Mehrwert, den ein Teilprozess für den Prozessablauf zur Verfügung stellt. Gemeint ist damit eine Anwendung oder Dienstleistung oder ein prozessbeeinflussendes theoretisches Konstrukt für die täglichen Arbeitsprozesse.
Der Mehrwert zeigt sich in Bezug auf einen Prozessablauf zum einen in der Differenz zwischen dem Nutzwert eines neuen Teilprozesses und dem Nutzwert der Teilprozesse, die bereits in einem bestehenden Prozessablauf etabliert sind. Seine Effektivität d Effizienz kann ein neuer Teilprozess allerdings nur entfalten, wenn dieser qualitativ hochwertig ist und für den Gesamtprozess eine Verbesserung darstellt. Die Integration eines neuen Teilprozesses stellt im ersten Moment eine Veränderung dar. Dieser integrative Vorgang hat Auswirkungen auf die Anforderungen an den Nutzer. Der disruptive Charakter eines solchen Teilprozesses wird nicht, wie schon erwähnt, durch die Technologie bestimmt, sondern durch das theoretische Konstrukt, das diesem Teilprozess zugrunde liegt. Die Technologie dient demnach nur als Hilfsmittel zur Umsetzung des theoretischen Konstrukts.
Dennoch dürfen Technologie und theoretisches Konstrukt nicht isoliert voneinander betrachtet werden, denn Organisationen sind wie Organismen: vielschichtige Entitäten, die in ihrer Lebendigkeit einen hohen Grad an Adaptivität aufweisen. Vor dem Hintergrund des Bisherigen soll folgende These aufgestellt werden: Die zu dem Begriff Disruption geführte Diskussion im wirtschaftlichen Kontext ist im Grunde eine Fortführung der Kompetenzdiskussion. Sie adressiert die Kompetenzentwicklung des Einzelnen sowie das kollektive Gedächtnis eines Unternehmens. So gesehen ist Disruption eine Information, die nicht nur Veränderungen anregt, sondern auch aufzeigt, wo beim Einzelnen Weiterbildungsbedarf besteht. Disruptive Momente sind folglich konstruktive Störungen, die das Potenzial haben, sowohl Produkte zu verbessern als auch Prozessabläufe zu modernisieren.
Aber zurück zu der aufgestellten These, die ja mit einem sozialpsychologischen Phänomen in Verbindung gebracht wurde. Hier wird ein höchst bemerkenswertes sozialpsychologisches Phänomen wirksam, das der ,,Shifting Baselines“. Damit bezeichnet man den Umstand, dass Menschen in sich wandelnden Umgebungen den Wandel nicht registrieren, weil sie ihre Wahrnehmung permanent parallel zu den äußeren Veränderungen nachjustieren. Dies ist wahrscheinlich auch der Grund, warum viele den disruptiven Moment einer Veränderung nicht erkennen. Mit dem zuvor Gesagten wird die Frage nach Referenzpunkten der Wahrnehmung von Phasen der Veränderung und Erkenntnisse laut. Sie adressiert konkret die bestehende Kluft zwischen dem ersten und zweiten Gesundheitsmarkt sowie den Kompetenz-Gap, der durch eine nicht vorhandene beziehungsweise falsche Wahrnehmung der Veränderungen im Gesundheitswesen erfolgt. Dieses Wahrnehmungsdefizit lässt sich unter anderem dadurch erklären, dass vielfach kein Referenzpunkt existiert, an dem sich der Wandel festmachen lässt. Anders als disruptive Ereignisse wie Erdbeben oder Unfälle, wird der Wandel, der durch die Teilprozesse hervorgerufen wird, nicht als einschneidend wahrgenommen. Meist bleibt er unterhalb der Wahrnehmungsschwelle.
Der Schweizer Ökonom Bruno Frey hat dafür den Begriff Prozessnutzen definiert und ihn vom Ergebnisnutzen abgegrenzt. Überträgt man diese Sicht auf den klinischen Ablauf, manifestiert sich der Ergebnisnutzen in dem Irrglauben, durch die Einführung einer neuen Software Personal einsparen zu können. Prozessnutzen ist vor diesem Hintergrund, wenn man selbst in einer Weise an der Planung und Konzeption einer solchen Software beteiligt ist, damit für die Beteiligten ein Mehrwert entsteht. Vergleicht man diese Aussage mit den aktuellen Formen der Fort- und Weiterbildung in den Einrichtungen und Institutionen des Gesundheitswesens, so ist man von diesem Ideal noch weit entfernt. Der partizipative und selbstbestimmte Einbezug des Individuums in seine Kompetenzentwicklung ist im Gesundheitswesen noch eine Illusion, ganz zu schweigen vom Aspekt der Gesundheitsbildung des Individuums.