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Der zweite Gesundheitsmarkt mit all seinen Dienstleistungen reagiert auf den demografischen Wandel, während der erste Gesundheitsmarkt in seiner starren und unflexiblen Struktur weiter abgehängt wird. Um zu überleben, sind Institutionen jedoch gezwungen, sich lernend zu verändern – folglich proaktiv mit Disruption im Sinne von Anpassung und Kompetenzentwicklung umzugehen. Aufgrund der vielfältigen Herausforderungen im Spannungsfeld zwischen demografischem Wandel und steigendem Bedarf nach effizienten Systemen sind für das Gesundheitswesen möglichst flexible und optimal in bestehende Infrastrukturen integrierbare Lösungen erforderlich. In diesem Zusammenhang erscheint der Begriff ,,Digitaler Patient“ am Horizont. Die Digitalisierung des Patienten steht in direkter Verbindung mit den Begriffen ,,E-Health“ und ,,Telemedizin“. StörungWas sich dahinter verbirgt, welche Komplexität diese Begriffe mit sich bringen und vor allem welche gesetzlichen Rahmenbedingungen für dazugehörige Dienstleistungen Gültigkeit haben, ist selbst für Experten nur temporär nachvollziehbar.

Mit der zunehmenden Fähigkeit der im Netz bestehenden und sich neu bildenden kommunikativen Netzwerke,neues Wissen und Akteure aufzunehmen und sich zu arrangieren, aber auch der Fähigkeit, dadurch gesamtgesellschaftliche Strukturen verstärkt beeinflussen zu können, verändert sich auch der Gesundheitsmarkt. Doch die durch die digitale Transformation erzeugten Anlässe zum Wandel organisationaler und prozessualer Abläufe erfolgen bislang nicht aus dem ersten Gesundheitsmarkt selbst, sondern durch das vom zweiten Gesundheitsmarkt initiierte Druckpotenzial.

Besonders in der Fort- und Weiterbildung zeigen sich deutlich die neuen Herausforderungen, vor denen Kliniken in Deutschland stehen. Durch Einflussfaktoren wie die technologische und soziokulturelle Entwicklung sowie die heterogene Strukturierung der Belegschaft, vermehrt durch ausländisches Personal, werden die bestehenden Prozessabläufe massiv beeinflusst. Die starren und gewachsenen Strukturen im klinischen Umfeld sind vielfach den sich ad hoc ergebenden Anlässen nicht mehr gewachsen, da sich diese durchaus kurzfristig ankündigen. Doch ist das wirklich so?


 

Kollaboration und Kooperation

Nicht zu Unrecht werden das Internet und die damit verbundenen Technologien als Basisinnovation des digitalen Zeitalters gesehen. Im Kontext des lebenslangen Lernens besteht diese Basisinnovation aus zwei Ebenen: der technologischen Ebene, die mit dem Begriff Web 2.0 gleichgesetzt wird, und der sozialen Ebene, die ihre Ausprägung in den Social Media-Anwendungen findet. Sowohl in der Wirtschaft als auch im Gesundheitswesen werden die inhaltlichen Aspekte der beiden Begriffe Web 2.0 und Social Media synonym betrachtet und führen in der Praxis der beruflichen Bildungssysteme zu Irritationen. Bei einer differenzierten Betrachtung von Social Media erkennt man sehr schnell, dass sich hinter diesem Begriff sowohl die technologische als auch die soziale Komponente vereinen.

Clay Shirky, Autor und Berater zum Thema Internet vertritt die Meinung, dass Web 2.0 hauptsächlich die technologischen Aspekte der genannten Basisinnovation adressiert. In Social Media sieht er hauptsächlich die Qualität der Partizipation und die Teilnahme an möglichen Netzwerken als charakterisierendes Merkmal. Damit spricht er zusätzlich die qualitativen Aspekte der Kollaboration und Kooperation an, die Voraussetzung für die partizipative Teilnahme am informellen Austausch über Gesundheitsbelange im Netz sind.

Im weiteren Sinne charakterisiert dieser Begriff nicht nur eine technische Entwicklung, sondern auch eine Geisteshaltung, eine Denkweise und ein Bekenntnis für ein vernetztes globales Denken zur Verbesserung der örtlichen, regionalen und weltweiten Gesundheitsversorgung – unter Verwendung von Informations- und Kommunikationstechnologien. Es sind also im Kontext der Fort- und Weiterbildung Strategien erforderlich, die einen ausbalancierten Mix aus traditionellen Formaten und Formaten mit elektronischen Medien anstreben. Folglich ist das Internet die Organisationsform und technische Basis, die es ermöglicht, zunehmend flächendeckend Personen schneller und wirkungseffektiver im Sinne ihrer Ziele und Bedürfnisse zusammenzubringen. Gerade die zunehmende Fähigkeit der im Netz bestehenden und sich neu bildenden kommunikativen Netzwerke,neues Wissen und Akteure aufzunehmen und sich zu arrangieren, aber auch die Fähigkeit, dadurch gesamtgesellschaftliche Strukturen verstärkt beeinflussen zu können, bleiben nicht ohne Auswirkungen auf den Gesundheitsmarkt, vor allem nicht ohne Auswirkungen auf die Fort- und Weiterbildungssysteme in den Einrichtungen des Gesundheitswesens.

Während die Wirtschaft in Bezug auf die betrieblichen Bildungssysteme ihre Hausaufgaben zumindest teilweise gemacht hat, herrscht diesbezüglich in den Einrichtungen des Gesundheitswesens derzeit noch überwiegend Orientierungslosigkeit. Neben dem Mangel an entsprechenden Fachkräften liegt dies vor allem an der zaghaften Umsetzung der unter dem Begriff ,,Digitale Transformation“ zu verstehenden Prozessabläufe. Hinzu kommt der in die Begrifflichkeiten ,,Disruption“ und ,,Disruptive Technologien“ hineininterpretierte angsteinflößende Bedeutungsgehalt des abgehängten Seins.

Doch was meint dieser zwischenzeitlich so durchgenudelte Begriff „Disruption“ eigentlich in Bezug auf das Gesundheitswesen? Was bedeutet er für Unternehmen der Branche und für Kliniken? Und ist Disruption, überspitzt formuliert, etwas von Gott Gegebenes, das ein Unternehmen wie ein Blitz aus heiterem Himmel trifft? Ins Leben gerufen wurde der Begriff vor ziemlich genau 20 Jahren vom Harvard-Professor Clayton Christensen. In seinem Buch ,,The Innovator’s Dilemma“ äußerte er sich erstmals über die Auswirkungen von disruptiven Technologien. In ,,The Innovator‘s Prescription: A Disruptive Solution for Health Care“ setzt er seine Theorie zum Gesundheitswesen in Bezug. Nach der These von Christensen scheitern etablierte und erfolgreiche Unternehmen, wenn sie von Innovationen mit dem Potenzial der schöpferischen Zerstörung attackiert werden. Schöpferische Zerstörung wiederum ist ein Synonym für den Begriff ,,Disruption“ und wird dem Österreicher Joseph A. Schumpeter (1883–1950) zugeschrieben, der ihn vor mehr als einem halben Jahrhundert kreierte.


 

Immunsystempasst sich an

Ein Verständnis darüber, was man unter dem Begriff Disruption im unternehmerischen Kontext zu verstehen hat, lässt sich sehr gut im Vergleich mit dem Imunsystem eines Organismus erlangen. Komplexe Organismen wie der Mensch benötigen, um zu überleben, ein Immunsystem, das sich permanent an seiner Umwelt orientiert und sich dieser anpasst. Initiiert wird dieser Anpassungsprozess unter anderem durch Infektionen oder durch Krankheiten, mit denen unser Immunsystem täglich konfrontiert wird und Zeitgenossen, die in unserem Körper einen Infekt erzeugen könnten, eliminiert. Demzufolge erzeugt die Evolution ein Druckpotenzial, dem sich das Immunsystem stellen muss, um zu überleben. Die durch Infektionen oder Krankheiten hervorgerufenen Anpassungsprozesse haben aber nicht zur Folge, dass der Organismus jedes Mal ein komplett neues Immunsystem bekommt. Es werden immer nur jene Teile des Immunsystems modifiziert, die dem Infekt oder der Krankheit entgegenwirken.

Vergleicht man die Innovationsprozesse der Evolution mit denen der Wirtschaft, so ist die Evolution im Vorteil – vor allem zeitlich. Dem Organismus steht wesentlich mehr  Zeit zur Verfügung, sich den evolutionär bedingten Entwicklungsschritten anzupassen. Greift ein Infekt diesen Organismus an, so ist dieser in der Lage, den Eindringling zeitnah zu erkennen und zu reagieren. Die gleiche Strategie verfolgen mittelständische Unternehmen wie Kärcher, Stihl oder Miele. Angefangen vom Familienbetrieb, sind diese Unternehmen heute weltweit in über 100 Ländern vertreten. Weil sie sich permanent den Erfordernissen angepasst haben. Der Zukunftsforscher Matthias Horx bezeichnet diese Strategie als ,,graduelle Kunst der Evolution“. Damit meint er, dass Betriebe nicht nur ihre Produkte, sondern auch ihre Prozesse ständig verbessern und somit den Disrupteuren davonlaufen.


Wandel kommt nicht überraschen

Mit Disrupteuren sind in diesem Kontext die sogenannten Start-up-Unternehmen und die Risiko-Finanziers des zweiten Gesundheitsmarktes gemeint. Aus wirtschaftlicher Perspektive zeichnet sich diesbezüglich ein gegensätzliches Bild. Die Fragmentierung der Berufsbilder, also die Aufspaltung eines Berufsbildes in Tätigkeiten, führt dazu, dass dem Individuum selbst innerhalb seines Berufsbildes Grenzen gesetzt werden. Der Tellerrand für das Individuum, also die Grenze, beginnt dort, wo die Handlungsrelevanz einer Tätigkeit aufhört zu existieren. Diese Sichtweise findet ihre Unterstützung nicht zuletzt in der enormen Arbeitsbelastung und dem zu knapp berechneten Stellenschlüssel in Einrichtungen des Gesundheitswesens. Urlaub und Krankheit führen dann meist noch zu zusätzlichen Belastungen, sodass es nur wenig Bereitschaft gibt, über den Tellerrand des Tagesgeschäfts hinauszublicken.

So entsteht ungewollt ein Kompetenz-Gap, der die zuvor angedeutete Tendenz verstärkt. Mit anderen Worten: Disruptionsmomente, die durch diesen Kompetenz-Gap entstehen, sind ursächlich nicht der Technologie zuzuschreiben, sondern dem schleichenden Entzug der Handlungsrelevanz. Dahinter verbirgt sich ein sozialpsychologisches Phänomen, das den Einzelnen und seine Kompetenzentwicklung tangiert. Für die Beschäftigungsfähigkeit des Individuums ist es deshalb wichtig, zu erkennen, für welche Tätigkeiten es sich Handlungsrelevanz aneignen muss. Im Gegensatz zu dieser Entwicklung in der Arbeitswelt ist unser Organismus ein Generalist, denn er hat immer die Gesamtzusammenhänge im Blick, die dem Individuum abhandengekommen sind. Daraus lässt sich die Erkenntnis ableiten, dass im Kontext der Wirtschaft Disruption wenig mit den Bedeutungsgehalten des lateinischen Wortstammes zu tun hat, sondern mit Anpassung und Kompetenzentwicklung. Überträgt man nun das Gesagte auf das Gesundheitswesen, so ist es nicht so, wie es in den Medien suggeriert wird, dass Vorgänge, unabhängig davon, durch welchen Umstand sie auch immer hervorgerufen werden, nicht beeinflusst werden können. So wie ein Infekt sich ankündigt und das Immunsystem auffordert, zu reagieren, bevor wir es merken, so kündigen sich auch Änderungen an, die Unternehmen auffordern, ihre bestehenden Prozessabläufe permanent den Anforderungen ihrer Umwelt anzupassen. So gesehen, sind Disruption und Evolution in gewisser Hinsicht dasselbe, aber nicht das Gleiche. Vor diesem Hintergrund reden wir eher über Disruptionsmomente im Sinne von Anpassung, anstatt von Disruption im Sinne von Zerstörung. Der Begriff Disruptionsmoment ist somit ein Synonym für den Begriff Teilprozess und steht für den Nutzen beziehungsweise den Mehrwert, den ein Teilprozess für den Prozessablauf zur Verfügung stellt. Gemeint ist damit eine Anwendung oder Dienstleistung oder ein prozessbeeinflussendes theoretisches Konstrukt für die täglichen Arbeitsprozesse.

Der Mehrwert zeigt sich in Bezug auf einen Prozessablauf zum einen in der Differenz zwischen dem Nutzwert eines neuen Teilprozesses und dem Nutzwert der Teilprozesse, die bereits in einem bestehenden Prozessablauf etabliert sind. Seine Effektivität d Effizienz kann ein neuer Teilprozess allerdings nur entfalten, wenn dieser qualitativ hochwertig ist und für den Gesamtprozess eine Verbesserung darstellt. Die Integration eines neuen Teilprozesses stellt im ersten Moment eine Veränderung dar. Dieser integrative Vorgang hat Auswirkungen auf die Anforderungen an den Nutzer. Der disruptive Charakter eines solchen Teilprozesses wird nicht, wie schon erwähnt, durch die Technologie bestimmt, sondern durch das theoretische Konstrukt, das diesem Teilprozess zugrunde liegt. Die Technologie dient demnach nur als Hilfsmittel zur Umsetzung des theoretischen Konstrukts.

Dennoch dürfen Technologie und theoretisches Konstrukt nicht isoliert voneinander betrachtet werden, denn Organisationen sind wie Organismen: vielschichtige Entitäten, die in ihrer Lebendigkeit einen hohen Grad an Adaptivität aufweisen. Vor dem Hintergrund des Bisherigen soll folgende These aufgestellt werden: Die zu dem Begriff Disruption geführte Diskussion im wirtschaftlichen Kontext ist im Grunde eine Fortführung der Kompetenzdiskussion. Sie adressiert die Kompetenzentwicklung des Einzelnen sowie das kollektive Gedächtnis eines Unternehmens. So gesehen ist Disruption eine Information, die nicht nur Veränderungen anregt, sondern auch aufzeigt, wo beim Einzelnen Weiterbildungsbedarf besteht. Disruptive Momente sind folglich konstruktive Störungen, die das Potenzial haben, sowohl Produkte zu verbessern als auch Prozessabläufe zu modernisieren.

Aber zurück zu der aufgestellten These, die ja mit einem sozialpsychologischen Phänomen in Verbindung gebracht wurde. Hier wird ein höchst bemerkenswertes sozialpsychologisches Phänomen wirksam, das der ,,Shifting Baselines“. Damit bezeichnet man den Umstand, dass Menschen in sich wandelnden Umgebungen den Wandel nicht registrieren, weil sie ihre Wahrnehmung permanent parallel zu den äußeren Veränderungen nachjustieren. Dies ist wahrscheinlich auch der Grund, warum viele den disruptiven Moment einer Veränderung nicht erkennen. Mit dem zuvor Gesagten wird die Frage nach Referenzpunkten der Wahrnehmung von Phasen der Veränderung und Erkenntnisse laut. Sie adressiert konkret die bestehende Kluft zwischen dem ersten und zweiten Gesundheitsmarkt sowie den Kompetenz-Gap, der durch eine nicht vorhandene beziehungsweise falsche Wahrnehmung der Veränderungen im Gesundheitswesen erfolgt. Dieses Wahrnehmungsdefizit lässt sich unter anderem dadurch erklären, dass vielfach kein Referenzpunkt existiert, an dem sich der Wandel festmachen lässt. Anders als disruptive Ereignisse wie Erdbeben oder Unfälle, wird der Wandel, der durch die Teilprozesse hervorgerufen wird, nicht als einschneidend wahrgenommen. Meist bleibt er unterhalb der Wahrnehmungsschwelle.

Der Schweizer Ökonom Bruno Frey hat dafür den Begriff Prozessnutzen definiert und ihn vom Ergebnisnutzen abgegrenzt. Überträgt man diese Sicht auf den klinischen Ablauf, manifestiert sich der Ergebnisnutzen in dem Irrglauben, durch die Einführung einer neuen Software Personal einsparen zu können. Prozessnutzen ist vor diesem Hintergrund, wenn man selbst in einer Weise an der Planung und Konzeption einer solchen Software beteiligt ist, damit für die Beteiligten ein Mehrwert entsteht. Vergleicht man diese Aussage mit den aktuellen Formen der Fort- und Weiterbildung in den Einrichtungen und Institutionen des Gesundheitswesens, so ist man von diesem Ideal noch weit entfernt. Der partizipative und selbstbestimmte Einbezug des Individuums in seine Kompetenzentwicklung ist im Gesundheitswesen noch eine Illusion, ganz zu schweigen vom Aspekt der Gesundheitsbildung des Individuums.


 

Intrinsische Motivation

Freys Sichtweise liegt die Erkenntnis zugrunde, dass Menschen den Prozessnutzen vorziehen. Am besten motiviert man Menschen mit Dingen, die mit ihnen und ihrem Leben zu tun haben. Der Ergebnisnutzen folgt dem Prinzip des Pay for Performance und den am grünen Tisch erarbeiteten Fakten. Frey spricht mit seiner Aussage konkret die intrinsische Motivation an. Wenn ich folglich Lernszenarien direkt mit Arbeitsprozessen kombinieren und verbinden kann, um ein Problem zu lösen, dann haben die so gestalteten Lernprozesse etwas mit dem Leben der Nutzer zu tun. Es kommt darauf an, die Beteiligung an der eigenen Sache interessant zu machen. Vor diesem Hintergrund sollte der Mehrwert nicht mit dem Begriff Qualität gleichgesetzt werden, sondern mit dem englischen ,,User Value“. Darunter ist im medizinischen Kontext die Bereitstellung und Filterung sowie der Zugang zu gesundheitsbezogenen weichen sowie klinisch harten Informationen zu verstehen.

Das heißt, dass der Zugang zu Lernprozessen im Sinne einer persönlichen Relevanz ermöglicht werden muss. Dies würde auch der gesellschaftlichen Entwicklung entsprechen, in der die Patienten digital vernetzt, partizipativ und kollaborativ agierend, ihre eigene Gesundheit betreffend Rahmenbedingungen schaffen, die disruptiven Charakter für Prozessabläufe im ersten Gesundheitsmarkt haben.